Wer bist du, wo lebst du und was machst du so?
Lilly:
Die Mehrheit nennt mich Lilly, während ein weitaus kleinerer Teil mich unter dem Namen Marlen kennt. Wir verzeichnen das Jahr 2021, ich bin Anfang 30, in Berlin geboren, aufgewachsen und habe vor dem Ausbruch von Covid-19 neben dem Studium meinen Unterhalt in der Kultur- und Veranstaltungsbranche verdient, hauptsächlich als Einlasserin des weltbesten Zirkusclubs „Toast Hawaii“.
Sabrina:
Ich bin Sabrina, Ende dreißig und lebe in einem Hausprojekt in Berlin - Schöneberg. Vor der Pandemie war ich in der Kultur- und Veranstaltungsbranche tätig.
Seit einem Jahr leben wir mit Corona und viele Locations sind im Lockdown. Welchen Ort vermisst du am meisten und warum? Was bedeutet der Ort für dich?
Lilly:
Wie viele bereits wissen, werden die roten Eisentüren, durch die man in die Manege des außergewöhnlichen „Toast Hawaii‘s“ gelangt, nicht wieder öffnen, wodurch Berlin nach der Pandemie einen meiner unangefochtenen Lieblingsorte verlieren wird. Wer sich „Biere, Menschen, Sensationen“ wünscht, wird zukünftig auf meinen Geheimtipp hin, Platz in der Zirkusbar „Zum Starken August“ finden - ein ebenso buntes Tor in eine offenherzige, einzigartige und fantastisch gelungene Welt der Inspiration. Für Peter‘s Projekt habe ich mich für einen gleichermaßen atmosphärischen Sehnsuchtsort innerhalb dieser Stadt entschieden, der zum regelmäßigen Verweilen einlädt und mich unter anderem aufgrund seiner Vielfältigkeit überaus fasziniert- „Die Zukunft am Ostkreuz“ (ZaO). Dieses einmalige Gelände dient nicht nur als Kneipe, Raucher*innensalon, Theater- und Lesebühne, Drehort, kreatives Wohnzimmer oder Kino- und Begegnungsstätte, sondern ist ebenso für zahlreiche intergalaktische Underground Konzerte jeglichen Genres bekannt, bei denen ich auch schon kassieren durfte und sollte aus nicht minder als tausend guten Gründen unbedingt bis in alle Ewigkeit für uns, sowohl auch für jüngere Generationen erhalten bleiben.
Sabrina:
Es überrascht wahrscheinlich niemanden, dass ich die „Zukunft am Ostkreuz“ am meisten vermisse. Ich habe dort gearbeitet, unzählige tolle Konzerte miterlebt, mir Film- und Theateraufführungen angeschaut, Freunde getroffen und dabei das beste, selbstgebraute Bier der ganzen Stadt getrunken. Die Zukunft war daher bis zum Beginn der Pandemie mein zweites Zuhause und das schon seit sehr vielen Jahren.
Wann warst du zuletzt hier und wie oft hast du früher diesen Ort besucht?
Lilly:
Meinen letzten Besuch kann ich noch sehr gut nachskizzieren. Damals verspürte ich einen riesigen Durst auf ein großes Glas kaltes Bananenweizen, das ich vorzugsweise in der „Zukunft am Ostkreuz“ genieße und so freute ich mich sehr darüber, dass zu diesem Zeitpunkt wenigstens der Biergarten geöffnet hatte.
Sabrina:
Im letzen Sommer als der Biergarten zeitweise öffnen durfte, war ich das letzte Mal dort. Vor dem 1. Lockdown war ich jedoch mehrmals die Woche vor Ort anzutreffen.
Wie sieht deine Ersatzbeschäftigung aus?
Lilly:
Anfangs habe ich viel Zeit mit meinen besten Freund*innen verbracht, zu denen ich auch Peter zähle und gemeinsam mit ihnen verschiedenste Ausflüge unternommen oder aber kleinste Projekte umgesetzt, woran ich mich unfassbar gerne erinnere und wofür ich jedem einzelnen ein liebreizendes Dankeschön aussprechen möchte. Doch zeitgleich mit dem ersten Lockdown zog ich mich mit jedem weiteren Monat immer mehr zurück und verirrte mich dabei mit jedem Tag mehr, obwohl sich meine Liebsten wärmstens um mich bemüht und gekümmert haben. Manches Mal fühlte ich alles und nichts zugleich und manche meiner Handlungen entstammten aus dem Drang heraus, mich zurückgewinnen und neu erspüren zu wollen. Schon immer habe ich meinem Selbst hinreichend Zeit gewidmet, was ich auch als vollkommen natürlich erachte. Nun diesmal jedoch habe ich auf Einsamkeit gebissen, sie zerkaut und runtergeschluckt - viel geschrien, geweint, nachgedacht, taggeträumt, umher gestarrt und doch mehr mit mir über mich und das Phänomen „Leben“ gelacht als wohl je zuvor. Es fällt mir ziemlich schwer,die Coronazeit auf ein paar Sätze zu reduzieren, auch weil meine Erinnerungen derzeit verschwimmen. Es gab düstere Phasen, in denen ich nachts völlig verzweifelt einschlief und es gab diese anderen bedeutsamen Momente, in denen ich mich meinem inneren Frieden so viel näher fühlte als bislang. Selbst jene unproduktiven Tage, obgleich sie verloren schienen, haben mir ein erschöpftes, manchmal leises, hier und da lautes „Aha“ abgerungen, wenn auch zuweilen erst rückblickend. Ich habe eine tolle Meditationsgruppe namens „Berlin Meditates“ gefunden, welche ich seit Jahren sehnlichst gesucht hatte. Die wöchentlichen Sitzungen werden mittlerweile online abgehalten - fühlt Euch von mir dazu eingeladen. Des Weiteren bin ich nun Teil eines kraftvollen Frauenzirkels, der aus mir bis dahin unbekannten, vielseitigen Frauen aus der ganzen Welt besteht und innerhalb dessen ich zwischen den Lockdowns meine erste Kakaozeremonie im kleinsten Kreise erleben konnte. Zudem gab mir ein Wegbegleiter die Möglichkeit in einem Film mitzuwirken und mich innerhalb dieser neuen Tätigkeit in verschiedenen Rollen auszuprobieren. Wir haben gewiss alle viel Verzicht aushalten müssen, daher erscheint es mir als durchaus lohnenswert, Beobachtungen darüber anzustellen - was von einem übrig bleibt, wenn ein nicht unerheblich großer Teil des Gewohnten im Inneren und durch Corona vor allem im Äußeren wegfällt.
Sabrina:
Für die Zukunft gibt es leider keinen Ersatz. Alles was mir dieser Ort gegeben hat, war auf einmal weg. Als exzessive Konzertgängerin war ich aber ehrlich gesagt noch so gut genährt, dass mir der gewohnte Konzertbesuch am Anfang gar nicht so sehr fehlte wie ich dachte. Ich habe eher die damit verbundenen sozialen Kontakte vermisst. Ich hatte letztes Jahr auch das Glück, ein paar wenige kleine, aber dafür gute Konzerte im Freien miterleben zu dürfen. Dieses Jahr spüre ich meine Sehnsucht schon weitaus mehr. Allerdings bin ich zuversichtlich, dass der Sommer uns ein paar, musikalische Begegnungen bereit hält. Was neben guter Livemusik immer fehlt, ist natürlich die schmackhafte, selbstgebraute “Goldene Zukunft“.
Wie bist du durch das Corona-Jahr gekommen? Was ist in deinem Leben passiert und was ist nicht passiert wegen Corona?
Lilly:
Mir ging es Monate vor dem Ausbruch des Virus aus den unterschiedlichsten Gründen nicht gut, körperlich wie seelisch, weswegen ich bereits damals schon in die Stille ging und nur noch zu wenigen auserwählten Verbündeten einen wirklich intensiven Kontakt, als auch offene, ehrliche Gespräche pflegte. Vor allem habe ich den Schmerz einer Trennung auf eine Weise gefühlt wie noch nie zuvor in meinem bisherigen Leben. So erhielt ich nach zig Wochen des Leidens, basierend auf einer vorhandenen Hochsensibilität, die Diagnose „Broken-Heart-Syndrom“. Das Band der Zugehörigkeit riss komplett ab, während an selbige Stelle eine dunkle Leere rückte, die sich als dauerhafter unbekannter Schmerz auf meinen Brustkorb legte. Eine tiefgreifende Traurigkeit nahm Besitz von mir und wurde Teil meines Wesens, derweil mir das Tempo meiner Mitmenschen zu schaffen machte und ich darüber zunehmend in Sorge verfiel, nicht mehr länger mithalten zu können. So empfand ich den Lockdown einerseits als äußerst heilsame Entschleunigung und andererseits als massive Bedrohung meiner Existenz. Vieles ist nicht passiert, durfte reifen und wird noch geschehen. Interessante Begegnungen und Zusammenkünfte wie mit Sabrina sind dennoch auf verblüffende Art und coronakonform zustande gekommen, welche mich wiederkehrend selig stimmen und durch den Prozess der Genesung tanzen lassen. Für all diese harmonischen, neuen und bereits bestehenden Verknüpfungen bin ich unbeschreiblich dankbar, denn sie bereichern meinen Geist mit immer wieder neuen Impulsen, die mich zu meiner Freude überraschen, zuweilen anrühren, ab und an in bizarre wie gleichermaßen belustigende Verwirrung versetzen, sowohl lehren als auch größtenteils in pure Verzückung hüllen. Lasst mich abschließend gestehen, dass die letzten Monate von einem vollumfänglichen Schamgefühl geprägt waren, dass ich nicht länger nähren werde. Ich möchte zu allen sprechen - mit einem warmen Blick zu denen von Euch, die sich nicht selten unbedeutend fühlen, und mit einem wissenden Lächeln zu denen, die zu oft glauben gar zu viel zu fühlen, mit besonders müden Augen zu den Leser*innen unter Euch, die darunter leiden alles zu zerdenken und selbstverständlich ebenfalls zu all jenen, denen meine Ausführungen höchst befremdlich erscheinen mögen: Erschöpft Euch nicht selbst zu regelmäßig, schöpft in der Regel eher aus Euch selbst! Auf Situationen, die ich durchdringend (nach)fühlen kann und die nach meinem Herzen greifen, reagiert mein Körper noch heute mit diesem gewissen Ziehen, Brennen und Stechen tief in meinem Inneren, das wird er vermutlich auch immer und dadurch lässt er mich erinnern: Ein weiches Herz aus Samt vor dem Erkalten und aller Härte zu bewahren, ist eine Lebensaufgabe und für mich der Sinn meines Seins. Achtet, trotz nun mehr als einem Jahr Ausnahmezustand, mit Demut und voller Genügsamkeit auf Euch und ebenso auf Andere, zelebriert feierlich das Gefühl der Verbundenheit – gegenwärtig überwiegend gedanklich oder auf gescheitem Wege, andernfalls im Freien, mit Schnelltests oder Masken und ausreichend Abstand zueinander.
Sabrina:
Ich kann mich nicht beschweren, da ich im März des letzten Jahres, also zeitgleich mit dem 1. Lockdown eine Weiterbildung begonnen habe. Ich war daher gut beschäftigt und mitunter auch ganz froh darüber, dass es nicht sehr viel Ablenkung von Außen gab. Zudem war ich viel in der Natur und habe Dinge für mich getan, für die ich sonst eher seltener oder gar keine Zeit gefunden habe. Vor allem Zeit, um darüber nachzudenken, was ich vom Leben wirklich will. Dinge, die vorher eine Selbstverständlichkeit waren, weiß ich jetzt nach über einem Jahr Corona viel mehr zu schätzen.